
Die Kunst lebt von zwei Spannungsfeldern in denen der Mensch steht: "Innen und Außen", "Verstand und Gefühl".
Das "Außen", das ist die Welt draußen, außerhalb von uns, so wie wir sie wahrnehmen können mit Hilfe der Sinnesorgane und den Möglichkeiten des Gehirns. Das "Innen" ist das Bewusstsein unseres Selbst, das Ich, die Gedanken, Gefühle, Hoffnungen und Ängste, das Wissen und der Verstand. Die Darstellung des Außen hat ihren Höhepunkt im Realismus. Dagegen steht die abstrakte Kunst, die auf das Außen völlig verzichtet.
Die reinste Darstellung der beiden anderen Gegenpole "Gefühl und Verstand" findet sich einerseits im Expressionismus, dem es allein um den Ausdruck der subjektiven Gefühlswelt geht, und andererseits im Konstruktivismus, dessen Ziel das Veranschaulichen von logischen Strukturen des Verstandes ist.
Die Expressionisten zielen auf das Emotionale, sie wollen ihrer inneren Anschauung Gestalt verleihen. Im Mittelpunkt der Darstellung steht die direkte Gefühlsaussage, ihr wird alles andere untergeordnet. Die Welt im Bild wird zum Träger der Emotionen des Künstlers. Die Kunstwerke repräsentieren seine Stimmungen und Ängste und sind Mitteilungen an die emotionale Seite des Betrachters. Expressionismus ist bewusst anti-rational.
Die Konstruktivisten dagegen sind anti-emotional. Sie erstreben die gänzliche Ausschaltung des subjektiven Ausdrucks in ihrer Kunst. Ihre Inhalte sind das Sichtbarmachen von logischen und messbaren Gesetzmäßigkeiten und Strukturen an sich, in ihrer absoluten Form, in völliger Loslösung vom Konkreten. Damit richtet sich ihre Botschaft ausschließlich an den Verstand, an die rationale Seite des Betrachters.
Die Logischen Abstraktionen vereinen diese auf den ersten Blick unvereinbaren Ansprüche des Expressionismus und des Konstruktivismus: das reine Ansprechen der Emotionalität und Rationalität. Sie füllen durch diese Synthese nicht nur ein kunstgeschichtliches Vakuum, sondern machen gleichzeitig das Spannungsfeld zwischen Verstand und Gefühlen in seiner unendlichen Variationsbreite bewusst. Mit Worten sind diese Erfahrungen nicht zu beschreiben, weil der Verstand sie nicht erschöpfend erfassen und "verstehen" kann.
Da sich dieser Prozess im Inneren des Menschen abspielt, verzichten die Logischen Abstraktionen konsequenterweise völlig auf die Einbeziehung des Außen, des Realen in ihrer Darstellung. Ihre Formen, Farben und Strukturen sind Ausdruck des Innersten des Menschen; sie sind der Versuch, die psychischen Vorgänge im Menschen in ihrer Ganzheit darzustellen, ohne diese durch Projektionen auf die Realität sichtbar zu machen.
Sie sind damit die Seelengestalten selbst. Seele verstanden als das Zusammenwirken von Gefühl und Verstand zu einer gelungenen Lösung, auf der ganzen Skala vom unbekannten tiefsten Dunkel unseres Ich bis hin zu den strengsten logischen Anforderungen unseres Denkens.
Wie die abstrakte Kunst sind die amorphen Figurationen der Logischen Abstraktionen gegenstandslos und unstrukturiert, sie verwenden zwar fraktale geometrische Grundstrukturen, aber keine vordefinierten Figuren mit bestimmten Bedeutungen oder subjektiver Symbolik.
Die Logischen Abstraktionen arbeiten mit freien abstrakten Formen als Träger der Farbe. Dabei stehen die ineinander greifenden amorphen Figurationen nicht isoliert, sie sind beweglich, spielerisch, dynamisch und wandelbar. Die Konturen entstehen intuitiv, sie entstammen dem Emotionalen, ganz dem Unbewussten.
Bei dem freien künstlerischen Gestaltungsprozess ist Raum für Ausdehnung, Bewegung, Wachstum und Offenheit für jede Form. So entstehen Formen ohne scharfe Grenzen und Gliederungen, ohne Einschränkungen und Regeln. Es ist alles erlaubt und alles möglich: ein fließendes Chaos im positiven Sinne.
Farben wirken auf alle Menschen emotional. Durch den kollektiven Kern in unserem Unbewussten und unsere gemeinsamen Erfahrungen mit der Welt lösen Farben bei vielen Menschen teilweise ähnliche Empfindungen und Reaktionen aus. So gibt es ein kaltes Blau, heißes Orange, lautes Gelb, aufregendes Rot, mystisches Violett oder unheimliches Schwarz usw.
Da sich Farben außerdem gegenseitig beeinflussen, ist ihre Wirkung aber auch sehr stark von dem Umfeld, in dem sie stehen, abhängig. Diese komplexe wechselseitige Beeinflussung der Farben wird bei den Logischen Abstraktionen durch einen rationalen Entscheidungsprozess bewusst dramatisiert.
Alle Farbkombinationen der Logischen Abstraktionen in den verschiedenen Feldern verändern dabei zum einen in jedem einzelnen Feld durch ihre vielschichtige und wechselseitige Beziehung zueinander die Farbwahrnehmung, die "Farblichkeit des Bildes" und beeinflussen dadurch das subjektive Farberlebnis und die emotionalen Reaktionen auf die Logischen Abstraktionen. Außerdem beeinflussen sich gleichzeitig aber auch die einzelnen mehrfarbigen Farbfelder untereinander. Verändern und prägen somit von "außen" zusätzlich die Wirkung der verschiedenen Farben innerhalb der einzelnen Felder.
Das Spektrum der nahezu unendlich vielen Farbkombinationen und Farbfeldkompositionen *) repräsentiert das vielfältige und häufig sehr komplizierte Spektrum der Gefühle, Affekte und Stimmungen.
Manche Farbkompositionen lösen innere Widerstände und Spannungen aus, andere vermitteln das Gefühl von Harmonie und Geborgenheit. Überraschenderweise konnte die Farbpsychologie durch die elementarische Betrachtung von Farben bisher noch kein umfassendes und allgemein gültiges System über die Gesetzmäßigkeiten der verschiedenen Farbenkompositionen vorlegen.
Die Logischen Abstraktionen verbinden die sehr vielschichtigen und verschiedenen Gefühlsfärbungen gleichzeitig zu einer einheitlichen, in sich deutlich gegliederten emotionalen Grundstimmung.
*) Farbkombinationen mit "nur" 32 Farben ergeben eine unvorstellbare Zahl mit 34 Nullen von Farbkombinationsmöglichkeiten. Ich benutze aber bei den Logischen Abstraktionen nicht nur 32 Farben, sondern über 360 Farbnuancen.
Zusätzlich zu den Gestaltungsmerkmalen der amorphen Figurationen und Farben sind die Logischen Abstraktionen durch geometrische, mathematische und formallogische Strukturen gekennzeichnet. Die Bilder sind nach festen Gesetzmäßigkeiten und Algorithmen aufgebaut, hier greift die Rationalität bewusst in den intuitiven künstlerischen Gestaltungsprozess ein.
Die geometrischen Strukturen bestehen aus Linien oder Flächen, die formallogischen Strukturen sind als das reine Prinzip selbst gegenstandslos durch die Darstellung der abstrakten Formen und Farben realisiert. Sie bringen höhere Ordnung und System in das künstlerische Chaos des Farb-Formspiels.
Das klare logische System kann auf den ersten Blick aber nicht eindeutig erkannt werden. Man ahnt es mehr, als das man es wirklich sofort verstehen und erklären kann. Der Verstand ist aufgefordert es nachzuvollziehen, um das logische Prinzip zu erkennen.
Durch das mehr intuitive Wahrnehmen und Verstehen der inneren Logik der Bilder wird die Aufmerksamkeit auf bisher vielleicht noch nie erfahrene und erlebte innere Zusammenhänge unseres Denkens und unserer Gefühle gelenkt. Durch die bestehenden Feldwirkungen werden zwar dabei unserem Bewusstsein Grenzen gesetzt, aber es entsteht auch eine neue seelische Dynamik durch die Wirkung der logischen Felder zueinander. Durch die Ganzheitlichkeit entsteht ein sehr komplexer geistiger und emotionaler Gesamteindruck, eine innere Gestalt, die in ihrer Wirkung eigene und völlig neue Qualitäten hat, die aus dem Zusammenwirken aller Einzelkomponenten erfolgen.
Ulrike Ertel, München, den 26. Dezember 1972